Veranstaltungstag „Vision Demokratie“ im Jagdschloss Niederwald würdigt das 75. Jubiläum des Grundgesetzes
Deutschland erinnert in diesen Tagen an den 75. Geburtstag des Grundgesetzes, das am 23. Mai 1949 in Kraft gesetzt wurde. Die Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen (SG) würdigten dieses Jubiläum mit dem Veranstaltungstag „Vision Demokratie“ am 15. Mai 2024 im Jagdschloss Niederwald. Hier ebneten im Sommer 1948 die Beschlüsse der Niederwaldkonferenz den Weg zur Ausarbeitung des Grundgesetzes.
Hier ist der Grundstein für unser Grundgesetz gelegt worden. Es ist uns als Schlösserverwaltung wichtig, die politischen Geschehnisse am authentischen Ort zu reflektieren und diesen Ort für unsere Gäste kenntlich zu machen.
SG-Direktorin Kirsten Worms
Vor diesem Hintergrund bildete das Jagdschloss eine Etappe der „Tour de Demokratie‘24“, mit der die Gesellschaft zur Erforschung der Demokratie-Geschichte e.V. (GEDG) in Kooperation mit der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte und dem Netzwerk Verfassungsstädte auf die deutsche Verfassungsdemokratie aufmerksam machen und eine lebendige Erinnerungskultur fördern möchte. Die Etappenfahrt begann am 4. Mai 2024 in Weimar und endet am 25. Mai beim Bürgerfest in Bonn. Über rund 20 Stationen geben eine Vielzahl an Vereinen und Institutionen den Staffelstab mit Hilfe unterschiedlichster Verkehrsmittel auf Straße, Schiene und dem Wasser weiter. Am 15. Mai traf die Projektgruppe per Schiff und Seilbahn im Jagdschloss Niederwald ein, wo der Staffelstab an die SG übergeben wurde.
Jagdschloss Niederwald als Erinnerungsort
Dr. Kai-Michael Sprenger von der Stiftung Orte der deutschen Demokratiegeschichte, die bereits 2023 das Jagdschloss als Ort der Demokratiegeschichte ausgezeichnet hatte, ging in einem Impulsvortrag der Frage nach, wie ein Ort zum Erinnerungsort wird. Erinnerungskultur müsse gemeinschaftlich und kontinuierlich gepflegt werden. Dies sei nicht nur mit Blick auf die Vergangenheit relevant, sondern auch auf die Gegenwart, wie Sprenger resümierte: „Die Beschäftigung mit Demokratiegeschichte kann uns vor Augen führen, was wir erreicht haben, aber auch, was gefährdet ist.“
Auch der Rüdesheimer Bürgermeister Klaus Zapp betonte die heutige Relevanz von Geschichtsbewusstsein: „Meine Generation weiß gar nicht mehr, was es bedeutet, außerhalb einer Demokratie zu leben. Demokratie ist für mich alternativlos. Gerade heute ist es wichtig, seine Stimme dafür zu erhaben.“
Vergangene und aktuelle Herausforderungen der Demokratie
Im Anschluss an die Staffelstabübergabe luden abwechslungsreiche Vorträge dazu ein, über vergangene und aktuelle Herausforderungen der Demokratie zu diskutieren. Prof. Dr. Michael Dreyer ging der Frage nach, ob das Grundgesetz andere Verfassungen wie etwa die US-amerikanische rezipiert, und welche Bedingungen für eine solche Rezeption gegeben sein müssen. Die Übertragbarkeit von Strukturen von politischen Institutionen, etwa der des amerikanischen Supreme Court auf das deutsche Bundesverfassungsgericht, sei bei der Ausarbeitung des Grundgesetzes intensiv diskutiert worden, jedoch habe man sich laut Dreyer schlussendlich doch auf deutsche Traditionen berufen.
Dr. Michael F. Feldkamp, Mitarbeiter des Deutschen Bundestages, gab einen Überblick über die Entwicklungen in den Jahren 1948/49 von den Frankfurter Dokumenten, in denen die Westmächte zum Einrichten einer Verfassung aufriefen, bis hin zur feierlichen Unterzeichnung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949. Er schilderte die damit verbundenen Herausforderungen, vor denen die deutschen Ministerpräsidenten standen, und deren zunächst zögerliche Haltung gegenüber einer Verfassung ohne die „Brüder und Schwestern“ in der vierten Besatzungszone.
Niederwaldkonferenz als Meilenstein auf dem Weg zum Grundgesetz
Um sich hinsichtlich des deutschen Standpunktes zu einigen, fand im Sommer 1948 die Niederwaldkonferenz statt. In der zweiten und entscheidenden Sitzung legten die Ministerpräsidenten fest, den Forderungen der alliierten Westmächte nur unter bestimmten Bedingungen nachzukommen. Im Juli 1948 einigen sich Ministerpräsidenten und Militärgouverneure in Frankfurt darauf, einen demokratischen Westdeutschen Teilstaat zu gründen sowie - um eine mögliche Wiedervereinigung Deutschlands nicht auszuschließen - einen Parlamentarischen Rat einzuberufen, der ein Grundgesetz als provisorische Verfassung formuliert. Am 1. September 1948 nimmt der Parlamentarische Rat letztlich seine Arbeit auf, bevor im Mai 1949 das Grundgesetz beschlossen, verkündet und unterzeichnet und die Bundesrepublik Deutschland damit gegründet wird.
Dr. Elke Schüller widmete sich in einem Vortrag im Speziellen Artikel 3, Absatz 2 des Grundgesetzes, der die Gleichberechtigung von Mann und Frau festlegt. Während im Sprachgebrauch meist von „Vätern der Verfassung“ die Rede sei, wies Schüller darauf hin, dass auch vier Frauen im Parlamentarischen Rat vertreten waren, von denen sich Dr. Elisabeth Selbert laut Schüller in besonderer Weise für den Gleichberechtigungsartikel einsetzte und entscheidend zu dazu beitrug, diesen zu implementieren. Schüller bezeichnet dies als „größten frauenpolitischen Erfolg der Nachkriegszeit“, betonte aber auch, dass eine „Diskrepanz zwischen Gleichberechtigungsnorm und Gleichberechtigungswirklichkeit“ besteht, bis in die heutige Zeit.
So zeigte sich in den Vorträgen und der anschließenden Diskussion unter der Leitung von Dr. Katharina Bechler, Leiterin des Fachgebiets Museen bei der SG, dass Demokratie eine politische und gesellschaftliche Daueraufgabe darstellt, die bis heute – 75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes – mit Herausforderungen verbunden ist.
Die Veranstaltungsreihe „Vision Demokratie“ der SG setzt sich am 12. Juni im Staatspark Hanau-Wilhelmsbad fort mit dem Vortrag „Ein zweites Hambach? Das Wilhelmsbader Fest 1832 und seine Auswirkungen“ von Dr. Markus Häfner.