Funde aus dem Brunnen geben Neues zur Vergangenheit des UNESCO Welterbes Kloster Lorsch preis

Bei der Untersuchung eines alten Brunnens auf dem Gelände des UNESCO Weltkulturerbes Lorsch vor einigen Jahren kamen unerwartet qualitätsvolle mittelalterliche Architektur- und Skulpturfragmente zum Vorschein. Eingebaut in die Wandung konnten einige von ihnen geborgen werden. Das Staunen über diese Funde war damals groß. Nach gründlicher Dokumentation, Restaurierung und wissenschaftlicher Einordnung sind sie nun erstmals öffentlich zu sehen. Am 6. Oktober 2021 ist die Ausstellung “Geschichte schöpfen – Quellen aus einem Brunnen” der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen (SG) eröffnet worden. Sie bildet den Höhepunkt des Jubiläumsprogramms zu 30 Jahren UNESCO Weltkulturerbe Kloster Lorsch.

Von links nach rechts; Dr. Schefers, Leiter der Welterbestätte, Frau Worms, SG-Direktorin der SG, Dr. Papajanni, Kuratorin der Ausstellung, Frau Asar, Staatssekretärin im HMWK, Herr Schönung, Lorschs Bürgermeister

Von links nach rechts; Dr. Schefers, Leiter der Welterbestätte, Frau Worms, SG-Direktorin der SG, Dr. Papajanni, Kuratorin der Ausstellung, Frau Asar, Staatssekretärin im HMWK, Herr Schönung, Lorschs Bürgermeister.

© Staatliche Schlösser und Gärten Hessen, Foto: Elisabeth Weymann

Die Präsentation im Schaudepot Zehntscheune spiegelt nach Meinung der Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Ayse Asar, die Qualität und den Auftrag einer Welterbestätte. “Dies ist ein authentischer Ort der Geschichte, an dem Menschen dank beispielhafter Vermittlungsinitiativen von Neugierigen zu Wissenden werden. Kloster Lorsch hat uns immer wieder mit Aufsehen erregenden Ausstellungen begeistert, darunter die anthropologische Schau “Begraben und Vergessen. Knochen erzählen Geschichte” zu menschlichen Überresten. Stets werden der Vergangenheit neue wichtige Erkenntnisse entlockt und verständlich für das Publikum aufbereitet."

Werkstücke werfen neues Licht auf die Geschichte des Klosters

Die kostbaren Steinmetzarbeiten, die im oberen Teil des zehn Meter tiefen barocken Brunnens verbaut waren, gehörten einmal zur Ausstattung der ehemaligen Lorscher Nazarius-Basilika. Von dem Gotteshaus mit seinen Anfängen in der Karolingerzeit, das als “Wunder an Pracht und Schönheit” gerühmt wurde, ist heute nur noch der westliche Teil des Mittelschiffs (das sogenannte Kirchenfragment) erhalten.

Das Fragment einer Skulptur, wie es im Brunnen vorgefunden wurde.

Das Fragment einer Skulptur, wie es im Brunnen vorgefunden wurde.

Foto: Katarina Papajanni, 2021

Zu den Werkstücken aus dem Brunnen gehören unter anderem die ornamentierten Elemente einer Chorschranke aus romanischer Zeit sowie Fragmente von gotischen Skulpturen mit bedeutenden Farbfassungsresten. Altarplatten konnten nicht herausgelöst werden. „Die Entdeckung der wiederverwendeten Spolien ist aus unserer Sicht nicht hoch genug einzuschätzen”, sagt Kirsten Worms, Direktorin der SG. “Sie werfen ein neues Licht auf die Geschichte des Klosters. Eine Blütezeit, unbestreitbar für die Epoche der karolingischen Herrscher, ist jetzt auch für spätere Jahrhunderte am Ort greifbar. Uns erscheint es sogar möglich, das Kloster in der Kunst und Architektur des Hoch- und Spätmittelalters neu zu verorten. Wir freuen uns über diesen großen Zugewinn an Erkenntnissen. Der Atzmann ist eine Sensation.“ Nach den Worten des Leiters der Welterbestätte, Dr. Hermann Schefers, gehören die Funde "in die allererste Reihe".

Kuriosität: ein “Atzmann”

Unter den kunsthistorisch hochbedeutenden Funden ist beispielsweise ein “Atzmann” aus dem 13. Jahrhundert: Diese seltene Bilderfindung gehört zu den Kuriositäten steinerner Kathedralskulptur des Mittelalters: Er wurde als ein Diener in Menschengestalt mit liturgischen Gewändern dargestellt, der auf Brusthöhe eine Pultplatte vor sich hält. Insgesamt sind aktuell nur 20 Atzmänner erhalten. Das neu entdeckte Lorscher Exemplar fordert eine Bezugnahme zu anderen heraus, beispielsweise zu jenen der weltbekannten Dome von Naumburg und Straßburg sowie zum Atzmann in der ehemaligen Chorherrenstiftskirche St. Peter in Fritzlar. Daher werden zum Vergleich diese drei “Verwandten” als digitale Modelle und alle weiteren Pultträger mit Fotografien in der Ausstellung gezeigt.

Aufsicht auf die Brunnenöffnung von kleinem Durchmesser.

Aufsicht auf die Brunnenöffnung mit kleinem Durchmesser. Die meisten Funde wurden aus den oberen Aufmauerungsringen geborgen.

Foto: Katarina Papajanni, 2021

Der Brunnen gab Erzählung und Szenographie vor

Nach den Worten der Kuratorin und Baudenkmalpflegerin der SG, Dr. Katarina Papajanni, wurden die Objekte mit hochpräzisen 3D-Scans erfasst und mit unterschiedlichen Methoden der Bauforschung, Restaurierung und Kunstgeschichte sowie der Naturwissenschaften dokumentiert und analysiert. Zudem habe man mit den Funden früherer Grabungen einen erweiterten Kontext für manches hinzugekommene Werkstück geschaffen: Korrespondierende Arbeiten aus dem Altbestand des Lorscher Lapidariums wurden einbezogen. “Wir haben sämtliche Blickwinkel auf das neue Material eingenommen, um sie disziplinenübergreifend einzuordnen”, so Papajanni.

Auch der Brunnenschacht selbst war Gegenstand gründlicher Erforschung. Er gab die Idee zu einer aufwändigen Szenographie für “Geschichte schöpfen – Quellen aus einem Brunnen” der Gestalterin Sabine Gutjahr (Exposition, Frankfurt). Papajanni und Gutjahr zielten darauf ab, die neuen Funde Interessierten aller Altersgruppen – auch ohne Vorkenntnisse – in ihrer Attraktivität und Bedeutung für Lorsch möglichst anschaulich vorzuführen.

Das Publikum kann kommen

Die Ausstellung bleibt zunächst bis zum 28. November 2021 geöffnet. In der Winterpause der Zehntscheunde finden jedoch weiterhin Führungen nach vorheriger Anmeldungen statt. Vom 1. März bis 30. Oktober 2022 ist die Schau wieder uneingeschränkt zugänglich. 2022 erscheint zu “Geschichte schöpfen – Quellen aus einem Brunnen” eine umfangreiche Publikation im Verlag Schnell & Steiner.

Noch im Jubiläumsjahr führen zwei kunsthistorische Vorträge in Themen ein, die die Ausstellung aufruft: Am 10. November 2021, 18:30 Uhr, stellt Dr. Anja Lempges vom Dom- und Diözesan-Museum Mainz den aktuellen Stand der Forschung zum Skulpturentypus Atzmann vor: “Atzmann. Stummer Diener für lautes Lob”. Angelika Wellnhofer, Kunsthistorikerin aus Regensburg, gibt am 2. Dezember 2021, um 18:30 Uhr, einen allgemeinen Überblick zu Kunst, die aus dem Zeitgeschmack fiel: “Verschenkt, enthauptet, begraben. Das Schicksal der Kunst”. Beide Vorträge finden im Paul-Schnitzer-Saal am Museumszentrum statt.

Plakat zur Ausstellung

Plakat zur Ausstellung mit dem Hauptmotiv: Abseilen in den Brunnen.

© Staatliche Schlösser und Gärten Hessen, Collage: Sabine Gutjahr / Exposition