Neue Impulse im aktuellen Gelehrtenstreit zum Kaiserreich

Mit dem Wunsch nach mehr Tiefenschärfe in der Forschung zum Deutschen Kaiserreich, nach ergebnisoffenen Debatten in der Geschichtswissenschaft und differenzierter Übersetzung für den Bildungssektor, politische Institutionen und Kultureinrichtungen ist am Dienstagabend eine internationale Historiker:innen-Tagung und online-Konferenz zu Ende gegangen. In Kooperation mit der Goethe-Universität veranstalteten die Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen (SG) in Bad Homburg den fruchtbaren Austausch mit dem Schwerpunkt „Das Kaiserreich vermitteln: Brüche und Kontinuitäten seit 1918“. Er stand unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier und wird großzügig von der Kulturstiftung der Länder sowie der Hessischen Kulturstiftung unterstützt. Zu Beginn des nächsten Jahres wird ein Tagungsband veröffentlicht.

Mehrfach bezogen sich die Teilnehmenden auf die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier Anfang des Jahres zur Gründung des Kaiserreiches vor 150 Jahren. Steinmeier zufolge stünden die Deutschen „dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern, Feldherren aus dieser Epoche“. Auch der Tagungsleiter, Prof. Dr. Torsten Riotte (Goethe-Universität Frankfurt) stimmte dem zu. Der Blick zurück auf diese Zeit sei ein schwieriger. Zu den alten, durchweg negativen Urteilen, die noch wirkmächtig seien, kämen aber laufend Forschungserkenntnisse hinzu, die die Moderne der Epoche betonten. Neue Interpretationen, insbesondere zu Kontinuitäten, seien gewinnbringend in einen öffentlichen Diskurs einzubringen.

Inmitten hitziger, gegenwärtig in der Publizistik und unter Fachhistoriker:innen geführter Debatten bezweckte die Tagung, die aktuelle Wissenschaft besser mit der Vermittlung (Schule, Universitäten, Ausstellungen, Führungen) zusammenzubringen. Sie war motiviert von der bevorstehenden Wiedereröffnung der kaiserlichen Residenzappartements im Bad Homburger Schloss. Nach zehn Jahren baulicher Sanierung des Gebäudes und Restaurierung des Inventars ist der Museumstrakt von Anfang September an wieder zugänglich. Er zeigt die einzigen, noch authentisch eingerichteten Wohn- und Repräsentationsräume der Hohenzollern-Könige und –Kaiser in Deutschland. SG-Direktorin Kirsten Worms rechnet damit, dass künftige Besucherinnen und Besucher „frische Zugänge an die didaktische Darstellung und museumspädagogische Vermittlung“ erwarten.

Zum Auftakt richteten die Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Ayse Asar, der Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, Prof. Dr. Markus Hilgert, und Claudia Scholtz, Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung, Hoffnungen auf die Verantwortung der Wissenschaft für die Gegenwart. Der Schutz der Demokratie sei herausgefordert. Wie beim Sturm auf das Reichstagsgebäude am 29. August 2019 durch Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker würden Symbole, Begriffe und Feindbilder des Kaiserreiches mythologisiert und unhinterfragt übernommen, mahnte Hilgert. Scholtz wies darauf hin, dass auf Diskussionsseiten der Internet-Enzyklopädie Wikipedia die Meinungen bei Kaiserreichsthemen hart umkämpft seien. Es werde „verbal mit dem Säbel gerasselt“. Auch Asar erklärte, wie wichtig es sei, diese Zeit zu verstehen und einzuordnen, neu zum Sprechen zu bringen und aus ihr für die Gegenwart und Zukunft zu lernen“.

Rund 150 registrierte Teilnehmende der Zoom-Konferenz in den drei Sektionen „Reformfähigkeit diskutieren“, „Wirtschaft, Gesellschaft, Lifestyle: Modernität problematisieren“ und „Das Kaiserreich didaktisch vermitteln“ verfolgten Vorträge und Diskussionen zu einer breiten Palette an Themen, zu unterschiedlichen Denkschulen und methodischen Herangehensweisen. Die Tagung war auch ein Versuch, Streitigkeiten über antagonistische Geschichtsbilder zu entschärfen, denn es „herrscht plötzlich ein rauer Ton innerhalb der Zunft“, sagte Riotte. Er entzündet sich teils daran, in welcher Weise das politische System des Kaiserreiches undemokratische Strukturen und damit nach der Weimarer Republik dem Dritten Reich den Weg gebahnt haben könnte.