Lorscher Evangeliar ins Weltdokumentenerbe der UNESCO aufgenommen
Das Lorscher Evangeliar wurde zusammen mit neun weiteren Codices aus den Schreibwerkstätten Karls des Großen ins Weltdokumentenerbe der UNESCO „Memory of the World“ aufgenommen, wie die Deutsche UNESCO Kommission bekanntgab. Die älteste Handschrift ist der so genannte Ada-Codex, der sich heute in Trier befindet; die jüngste der nach Ada, einer hochrangigen fränkischen Stifterin benannten Gruppe ist das Lorscher Evangeliar.
Das Lorscher Evangeliar ist eines der reifsten Produkte des Hofskriptoriums Karls des Großen, das zusammen mit den Kunstwerkstätten der Kaiserpfalz zunächst Einhard (ca. 770-840), dem Biographen Karls des Großen, und nach dem Tod des Kaisers dem Lorscher Mönch Gerward (ca. 790-860) unterstand. Es handelt sich um die vier Evangelien in einem Band, denen die üblichen Vorreden, die Kanontafeln und – vor jedem der Evangelien – eine Evangelistendarstellung und eine Prunkseite mit den jeweils ersten Worten eines jeden Evangelientextes vorangestellt sind. Höhepunkt ist eine Darstellung Christi als Universalherrscher zu Beginn des Matthäusevangeliums, das mit zwei Purpurseiten einsetzt. Jede der zweispaltigen Textseiten hat einen höchst kunstvollen Rahmen, jeder einzelne Buchstabe ist in Goldtinte auf hochwertigstes Kalbspergament geschrieben. Schon Sebastian Münster (1488-1522) schwärmte von dieser Handschrift, die er noch in Lorsch gezeigt bekam. Wenig später hat Kurfürst Ottheinrich das Evangeliar seiner Hof- und Universitätsbibliothek Heidelberg einverleibt, von hier kam sie nach 1622 Rom, von wo aus die Buchdeckel und der geteilte Buchblock unterschiedliche Wege gingen: ein Buchdeckel und die zweite Hälfte des Buchblocks gelangten in den Vatikan, der ursprünglich hintere Buchdeckel auf bis heute nicht geklärtem Weg in den Besitz des Victoria & Albert Museums in London, während die erste Hälfte der Handschrift über Wien und Ungarn in das heute rumänische Alba Julia fand.
„Die vermutlich am Aachener Hof entstandene Handschrift war vom 9. Jahrhundert bis zur Reformation ein Prunkstück der Bibliothek des Klosters in Lorsch und ist deshalb nach ihm benannt“, erklärt Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn. „Das Schicksal des Evangeliars, das nach der Auflösung des Klosters in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges aufgeteilt wurde, erzählt eine sehr europäische Geschichte – seine Teile sind heute auf mehrere Länder verteilt, einer galt nach der Rumänischen Revolution 1989 zeitweise als verschollen. Ich danke besonders der Bibliothek Trier, die gemeinsam mit anderen europäischen Institutionen den Antrag zur Aufnahme von insgesamt zehn karolingischen Bilderhandschriften in das Weltdokumentenerbe vorangetrieben hat.“
„Auch wenn Lorsch weder der Entstehungsort des Lorscher Evangeliars ist, noch sein Aufbewahrungsort, so ist die Geschichte dieser Handschrift, die zu den kostbarsten Kunstwerken europäischer Schrift- und Zierkunst zählt, untrennbar mit dem Kloster Lorsch verbunden“, sagt Kirsten Worms, Direktorin der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen. „Nachdem bereits das Lorscher Arzneibuch ins Weltdokumentenerbe aufgenommen wurde, unterstreicht diese weitere Auszeichnung erneut den Stellenwert, den das Kloster Lorsch einst einnahm und bis heute einnimmt. Der Welterbetitel ist für uns Ehre und Ansporn zugleich.“
Seit der Ernennung von Kloster Lorsch zum Weltkulturerbe 1991 entwickelte es sich zu einem attraktiven Ausflugs- und Lernort, der Maßstäbe für Welterbe-Pädagogik setzt. Das Areal wurde durch ein Investitionsprogramm von Bund und Land sowie der Stadt Lorsch mit landschaftlicher Neugestaltung verändert und aufgewertet, die den verlorenen Klosterkomplex sichtbar macht. Es erfolgte eine Erweiterung um „Lauresham“, das 1:1-Modell eines frühmittelalterlichen Dorfes und experimentalarchäologisches Freilichtlabor. Den einstigen reichen Bücherschatz aus dem Skriptorium der Mönche machten Digitalisierungen zugänglich. So entstand 2000 auch ein Faksimile des Lorscher Evangeliars.
Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard, Vorsitzender des deutschen Nominierungsausschusses für „Memory of the World“ sowie des Forums der deutschen UNESCO-Global Geoparks, weiß die Entscheidung der UNESCO sehr zu schätzen: „Sie trägt dazu bei, dass der Name Lorsch einmal mehr um die Welt geht - als herausragender Ausdruck einer global bedeutenden europäischen Kulturleistung, die sowohl Ergebnis als auch Ausgangspunkt einer jahrhundertealten ikonographischen Tradition darstellt.“ Damit spielt er auf den Gero-Codex des 10. Jahrhunderts an, der schon seit 2004 auf der Liste des Weltdokumentenerbes steht; es ist nicht auszuschließen, dass das Lorscher Evangeliar, das auf der Grundlage nicht erhaltener spätantiker Prachthandschriften steht, seinerseits zu seinen unmittelbaren Vorlagen gehört.
1999 war es geglückt, alle vier Teile des Lorscher Evangeliars am Ort seiner über siebenhundertjährigen Bibliotheksheimat Lorsch zu einer Ausstellung zusammenzuführen. Dr. Hermann Schefers erinnert sich an zwei der glücklichsten Tage seines Wissenschaftlerlebens, „als das Evangeliar hier in Lorsch ankam, mit Polizeieskorte und einem Dutzend TV-Teams im Schlepptau, und dann, als das Evangeliar drei Wochen später weiterreiste und wir alle tief aufatmeten, dass dem kostbaren Codex hier nichts passiert ist“. Dass diese Zusammenführung möglich war, ist den Recherchen Schefers' zu verdanken, der den zwischenzeitlich verschollenen Teil der Handschrift 1993 in Rumänien wiedergefunden hatte. Begleitet wurde die Ausstellung in Lorsch von einem internationalen wissenschaftlichen Symposium, dessen Beiträge in einem von Dr. Schefers herausgegebenem Sammelband erschienen, der bis heute als Standardwerk für diese Handschrift gilt.