Prof. Dr. Werner Plumpe setzt Akzente auf die Wirtschaft des Kaiserreichs

Prof. Dr. Werner Plumpe von der Goethe-Universität Frankfurt hielt am 12. Oktober 2021 einen Vortrag im Schloss Bad Homburg zum Wirtschaftsboom der Kaiserzeit und dem wilhelminischen Wirtschaftswunder. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „150 Jahre Kaiserreichsgründung“ der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen beleuchtete Plumpe damit einen Aspekt der Kaiserreichsgeschichte, der im gesellschaftlichen Diskurs häufig hinter den politischen und militärischen Entwicklungen zurücktritt, aber nicht minder entwicklungsreich und betrachtenswert ist.

Der Wirtschaftshistoriker ist seit 1999 Professor an der Goethe-Universität, zuvor studierte und habilitierte er sich in Bochum. Derzeit ist er unter anderem Mitglied des wissenschaftlichen Beirates zur Konzeption der Ausstellung „Vom Landgrafensitz zum Kaiserschloss“, die in Kürze im Schloss Bad Homburg eröffnet wird.

Prof Dr Werner Plumpe und Direktorin Kirsten Worms

Prof. Dr. Werner Plumpe mit Kirsten Worms, Direktorin der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen

Foto: Katharina Saul

„Vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan“

Das Deutsche Reich zählt laut Plumpe international zu den wirtschaftlichen Gewinnern vor 1914 und erhob sich „vom hässlichen Entlein zum stolzen Schwan“. Zwar verliefen die Entwicklungen nicht linear, aber die damaligen Krisen, beispielsweise nach dem sogenannten Gründerkrach 1873, stuft Plumpe im Vergleich zur heutigen Wirtschaftssituation als gering ein. Ein Wachstumszyklus sei insbesondere ab dem Zeitpunkt der Thronbesteigung Wilhelms II. 1888 zu beobachten.

Plumpe ging in seinem Vortrag unter anderem der Frage nach, was die Erfolgsfaktoren des Kaiserreichs waren, und stellt fest, dass ein enormes Bevölkerungswachstum einherging mit dem Ausbau des Bildungssystems, sodass das vorhandene Humankapital bestmöglich genutzt werden konnte. Die Zahl der Bevölkerung in Deutschland stieg vom Reichsgründungsjahr 1871 bis 1910 von 41 Million auf 64 Million Menschen an. Auch im Bereich der Wissenschaften und Forschung erfolgte ein zielstrebiger Ausbau. Plumpe spricht von einem „innovationsfreundlichen Umfeld“ im Deutschen Kaiserreich. Spuren damaliger Innovationen sind noch heute ablesbar, so wurde etwa das duale System der Berufsausbildung zu dieser Zeit eingeführt. Auch beginnende Formen der staatlichen Sozialversicherung etablierten sich. In vielerlei Hinsicht war das Deutsche Reich anderen Staaten voraus.

Bewerbung der deutschen Sozialversicherung

Die Reichsleitung rühmt sich ihres Erfolges

Prof. Dr. Werner Plumpe

Plumpe erachtet auch die Investitionsstärke „als herausragende Eigenschaft des Kaiserreichs“, so wurde ein Viertel des Bruttovermögens nicht konsumiert, sondern wieder investiert. „Dabei ist festzustellen, dass nicht nur die Industrie im Allgemeinen wächst, sondern vor allem auch die neuen Industriezweige wachsen“, so Plumpe. Das Reich entwickelte sich Ende des 19. Jahrhunderts von einem Agrarstaat immer mehr zu einem Industriestaat – ein Strukturwandel, der laut Plumpe in keiner anderen Volkswirtschaft der damaligen Zeit so stark zu beobachten sei.

Soziale Brennpunkte in den Städten

Dieser Strukturwandel zog nicht nur positive Entwicklungen nach sich. Die Verstädterung und Urbanisierung war zugleich Ursache und Wirkung des Wirtschaftswachstums, denn aus der Vervielfachung der Bevölkerungszahlen in den Städten leiteten sich Bauvorhaben und erste Momente einer Massenkonsumgesellschaft ab. Die Großstädte bildeten einen Polarisationspunkt in der Gesellschaft des Kaiserreichs, vielfach wurde die Reizüberflutung und die Anonymisierung kritisiert – Phänomene, die den Menschen zu dieser Zeit neu waren. „Ähnlich wie heute hat sich die Gesellschaft gefragt, wer wir sein wollen und in welche Richtung wir uns weiterentwickeln“, so Plumpe.

Im Zuge der Verstädterung verstärkte sich die soziale Ungleichheit. In einigen Städten entstanden soziale Brennpunkte. Die kommunale Daseinsfürsorge, etwa der Ausbau des Nahverkehrs, der Kanalisation, der Gas- und Stromversorgung, aber auch die Ausstattung von Krankenhäusern oder öffentlichen Einrichtungen stellte das Reich vor Herausforderungen, denen es kaum nachkommen konnte.

Blick in die sechs Höfe der Mietskaserne Meyers Hof in der Ackerstrasse im Wedding

Blick in die sechs Höfe einer Mietskaserne, aufgenommen 1910 in Berlin

Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Konkurrenz auf dem Weltmarkt

Eine weitere Herausforderung, die nur anfänglich erfolgreich gemeistert werden konnte, stellte die Integration in den Weltmarkt dar. Mit der Einführung des sogenannten Goldstandards schloss sich das Deutsche Reich der internationalen Währungsordnung an. Die Herstellung synthetischer Produkte konnte Importe zunehmend substituieren, während gleichzeitig Exporterfolge verzeichnet werden konnten. Dies zog Konkurrenzsituationen und Konflikte auf dem Weltmarkt nach sich. Insbesondere mit Großbritannien lieferte sich das Kaiserreich einen symbolträchtigen Innovationswettlauf. Die Machtbalancen verschoben sich, wodurch das Deutsche Reich die internationale Ordnung durcheinanderbrachte.

Auch wenn sich die wirtschaftlichen Akteure und die gesellschaftlichen Eliten laut Plumpe nicht im engeren Entscheidungskreis im Zusteuern auf den Ersten Weltkrieg hin befanden, sei es ihnen nicht gelungen, die Konkurrenzsituation zu entschärfen und moderat zu agieren. „Das war vielleicht der größte Fehler vor dem Ersten Weltkrieg“, resümiert der Referent.

Ausgewählte Literaturempfehlungen

Ulrich Pfister u.a. (Hg.), Deutschland 1871. Die Nationalstaatsbildung und der Weg in die moderne Wirtschaft, Tübingen 2021

Werner Plumpe, Die Gründung des Deutschen Reiches 1871: Ein Ereignis mit wirtschaftshistorischen Folgen?, in: Tilman Mayer (Hg.), 150 Jahre Nationalstaatlichkeit in Deutschland. Essays, Reflexionen, Kontroversen, Baden-Baden 2021, S.167-202

Richard H. Tilly, Vom Zollverein zum Industriestaat. Die wirtschaftlich-soziale Entwicklung Deutschlands 1834-1914, München 1990