Prof. Dr. Eckart Conze verteidigt umstrittene Thesen zu Nachwirkungen des Kaiserreiches
Bei einem Vortragsabend in Bad Homburgs Schlosskirche hat der Marburger Historiker Eckart Conze seine umstrittenen Thesen zu den ideellen und politischen Nachwirkungen des Deutschen Kaiserreiches (1871-1918) wiederholt und verteidigt. Die Schlosskirche war vollbesetzt, als Prof. Conze von der Philipps-Universität Marburg am Dienstagabend, den 26. Oktober 2021, gefährliche Auswirkungen in der heutigen Gesellschaft beklagte. Sie reichten in die deutsche Gesellschaft des 21. Jahrhunderts hinein und hätten unter anderem eine „Renationalisierung“ begünstigt. Conzes Ausführungen entlang den inhaltlichen Linien seines jüngsten Buches „Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgründung von 1871 und ihr schwieriges Erbe“ bildeten den Abschluss der Veranstaltungsreihe „150 Jahre Kaiserreichsgründung“ der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen.
Den Thesen des Historikers wird teils vehement widersprochen, weil er nach Meinung anderer Fachwissenschaftlerinnen und Fachwissenschaftler vor allem eine negative Sichtweise auf das Kaiserreich vertritt. Er wische die Ergebnisse differenzierender kulturgeschichtlicher und vergleichender Forschung vergangener Jahrzehnte beiseite und blende somit wichtige Entwicklungen hin zu Demokratisierung und Pluralisierung im politischen System des ersten deutschen Nationalstaates aus. Conze kehre zu einseitigen Perspektiven zurück und dies sei einer Schärfung des Geschichtsbewusstseins nicht zuträglich. Trotz dieser Mahnungen griff Conze auch in Bad Homburg wieder an: „Viele Historikerinnen und Historiker haben Anteil an der Weichzeichnung des Kaiserreichs.“
Conze betonte das nationale, vor allem von Preußen geschürte Geschichtsbild seit der Reichsgründung 1871, das durch eine Symbolpolitik im Kaiserreich heraufbeschworen wurde. Maßgebliche Kräfte hätten das Kaiserreich als Militärmonarchie inszeniert und den Kaiser in den Mittelpunkt gestellt. Das Parlament spielte ihm zufolge eine untergeordnete Rolle. Der Reichstag sei von Kaiser Wilhelm II. (1859-1941) sogar als „Reichsaffenhaus“ bezeichnet worden. „Es gab zwar ein Wahlrecht für Männer, dieses wurde durch die Schwäche des Reichstags jedoch konterkariert“, erklärte Conze.

Das Reichstagsgebäude in Berlin als symbolträchtiger Ort
© Deutscher Bundestag, Foto: Simone M. Neumann

Prof. Dr. Eckart Conze von der Philipps-Universität Marburg und Kirsten Worms, Direktorin der Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen
Foto: Katharina Saul
Das Kaiserreich sei von oben regiert worden. Conze hob autoritäre Strukturen, den Militarismus und den Kolonialismus hervor – Aspekte, die seiner Ansicht nach in der aktuellen Forschung zu Unrecht weniger Erwähnung finden als Fortschritte und Modernisierungen im Kaiserreich. Gerade die Innovationen, die sich Ende des 19. Jahrhunderts in rasanter Geschwindigkeit vollzogen, führten laut Conze zu einer Überforderung und Entfremdung der Menschen und dies habe Spannungen in der Gesellschaft nach sich gezogen. „Diese Situation bildete den Nährboden für eine zunehmende Radikalisierung“, äußerte Conze.
Eine dieser radikalen Tendenzen sieht der Historiker in der Vorstellung eines „echten Volkes“ und der ideologischen Reduzierung auf Gemeinschaft und Gemeinschaftsfremde. „Noch heute argumentieren Populisten auf diese Weise“, sagte Conze und verwies auf die Stürmung des Reichstags am 29. August 2020, bei der sich Protestierende unter anderem der Symbolik des Kaiserreichs bedienten. Conze erkennt „Dynamiken der Renationalisierung“ in der heutigen Gesellschaft. Durch Ereignisse wie den Einzug der Partei Alternative für Deutschland in den Bundestag 2017 sei das ferne Kaiserreich wieder nähergerückt. „Das Kaiserreich ist nicht der Staat, in dem wir heute leben“, resümierte Conze, „doch seine Geschichte ragt in unsere Gegenwart hinein.“