Neue Impulse im aktuellen Gelehrtenstreit zum Kaiserreich
Mit dem Wunsch nach mehr Tiefenschärfe in der Forschung zum Deutschen Kaiserreich, nach ergebnisoffenen Debatten in der Geschichtswissenschaft und differenzierter Übersetzung für den Bildungssektor, politische Institutionen und Kultureinrichtungen ist am Dienstagabend eine internationale Historiker:innen-Tagung und online-Konferenz zu Ende gegangen.
In Kooperation mit der Goethe-Universität veranstalteten die Staatlichen Schlösser und Gärten Hessen (SG) in Bad Homburg den fruchtbaren Austausch mit dem Schwerpunkt „Das Kaiserreich vermitteln: Brüche und Kontinuitäten seit 1918“. Er stand unter der Schirmherrschaft des Hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier und wird großzügig von der Kulturstiftung der Länder sowie der Hessischen Kulturstiftung unterstützt. Zu Beginn des nächsten Jahres wird ein Tagungsband veröffentlicht.
Die Rede des Bundespräsidenten zur Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 im Fokus
Mehrfach bezogen sich die Teilnehmenden auf die Rede des Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier Anfang des Jahres zur Gründung des Kaiserreiches vor 150 Jahren. Steinmeier zufolge stünden die Deutschen „dem Kaiserreich heute so beziehungslos gegenüber wie den Denkmalen und Statuen von Königen, Kaisern, Feldherren aus dieser Epoche“.
Auch der Tagungsleiter, Prof. Dr. Torsten Riotte (Goethe-Universität Frankfurt) stimmte dem zu. Der Blick zurück auf diese Zeit sei ein schwieriger. Zu den alten, durchweg negativen Urteilen, die noch wirkmächtig seien, kämen aber laufend Forschungserkenntnisse hinzu, die die Moderne der Epoche betonten. Neue Interpretationen, insbesondere zu Kontinuitäten, seien gewinnbringend in einen öffentlichen Diskurs einzubringen.
Anlass: die Wiedereröffnung der kaiserlichen Appartements im Bad Homburger Schloss
Inmitten hitziger, gegenwärtig in der Publizistik und unter Fachhistoriker:innen geführter Debatten bezweckte die Tagung, die aktuelle Wissenschaft besser mit der Vermittlung (Schule, Universitäten, Ausstellungen, Führungen) zusammenzubringen. Sie war motiviert von der bevorstehenden Wiedereröffnung der kaiserlichen Residenzappartements im Bad Homburger Schloss.
Nach zehn Jahren baulicher Sanierung des Gebäudes und Restaurierung des Inventars ist der Museumstrakt von Anfang September an wieder zugänglich. Er zeigt die einzigen, noch authentisch eingerichteten Wohn- und Repräsentationsräume der Hohenzollern-Könige und –Kaiser in Deutschland. SG-Direktorin Kirsten Worms rechnet damit, dass künftige Besucherinnen und Besucher „frische Zugänge an die didaktische Darstellung und museumspädagogische Vermittlung“ erwarten.
Fördernde Stiftungen und Politik wünschen Impulse für Gegenwart und Zukunft
Zum Auftakt richteten die Staatssekretärin im Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, Ayse Asar, der Generalsekretär der Kulturstiftung der Länder, Prof. Dr. Markus Hilgert, und Claudia Scholtz, Geschäftsführerin der Hessischen Kulturstiftung, Hoffnungen auf die Verantwortung der Wissenschaft für die Gegenwart. Der Schutz der Demokratie sei herausgefordert.
Wie beim Sturm auf das Reichstagsgebäude am 29. August 2019 durch Rechtsextremisten und Verschwörungstheoretiker würden Symbole, Begriffe und Feindbilder des Kaiserreiches mythologisiert und unhinterfragt übernommen, mahnte Hilgert. Scholtz wies darauf hin, dass auf Diskussionsseiten der Internet-Enzyklopädie Wikipedia die Meinungen bei Kaiserreichsthemen hart umkämpft seien. Es werde „verbal mit dem Säbel gerasselt“. Auch Asar erklärte, wie wichtig es sei, diese Zeit zu verstehen und einzuordnen, neu zum Sprechen zu bringen und aus ihr für die Gegenwart und Zukunft zu lernen“.
Zoom-Konferenz mit großer Reichweite
Rund 150 registrierte Teilnehmende der Zoom-Konferenz in den drei Sektionen „Reformfähigkeit diskutieren“, „Wirtschaft, Gesellschaft, Lifestyle: Modernität problematisieren“ und „Das Kaiserreich didaktisch vermitteln“ verfolgten Vorträge und Diskussionen zu einer breiten Palette an Themen, zu unterschiedlichen Denkschulen und methodischen Herangehensweisen.
Die Tagung war auch ein Versuch, Streitigkeiten über antagonistische Geschichtsbilder zu entschärfen, denn es „herrscht plötzlich ein rauer Ton innerhalb der Zunft“, sagte Riotte. Er entzündet sich teils daran, in welcher Weise das politische System des Kaiserreiches undemokratische Strukturen und damit nach der Weimarer Republik dem Dritten Reich den Weg gebahnt haben könnte.
"Schwarze und weiße Legenden" stehen dem Blick nach vorn im Weg
Christoph Nonn, Professor an der Heinrich-Heine-Universität, verwies auf eine „schwarze und weiße Legende“, bzw. vorrangig negative oder auch günstigere Beurteilungen des ersten deutschen Nationalstaates in der Geschichtsschreibung. Er plädiere für die Deutung des Kaiserreichs als „ambivalente Moderne“, als doppelte Vorgeschichte von Demokratie und Diktatur.
Eine ausführliche Bewertung Kaiser Wilhelms II. zwischen Persönlichkeitsmerkmalen, Charakterschwächen und seinen Funktionen als Monarch lieferte Prof. Dr. Frank Lorenz Müller aus St. Andrews in Schottland. Wilhlem sei unter anderem daran gescheitert, die Reichsverfassung zu hüten. Dies sei „eine schwere Unterlassungssünde“ gewesen.
Lifestyle- und Geschlechterforschung als Wegweiser der Moderne
Eva Giloi, Professorin in Newark / USA, brachte Konsumforschung mit kaiserlichen Kennzeichen und persönlichen Bezügen zur Familie der Hohenzollern ein. Anhand von Patenten lasse sich nachvollziehen, wie die Wirtschaft für eine Vielzahl von Nahrungsmitteln und Produkte aller Art „royal names“ nutzte, um ihrer Kundschaft höhere Qualität zu suggerieren. Verena Steller, Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Goethe-Universität, beleuchtete den Pionier-Kampf von frühen Juristinnen „mit und gegen das Recht“ im Rahmen der Biographie- und Geschlechterforschung, darunter die in den USA und im Kaiserreich tätige Schweizerin Emilie Kempin-Spyri (1853-1901).
Deutsches Kaiserreich als "global player" der Weltwirtschaft
Florentine Fritzen, Redakteurin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, berichtete von der „Lebensreformbewegung“ der Jahrhundertwende und in welcher Weise Vegetarier durch gesunde Ernährung nicht nur „Selbstoptimierung“ betrieben, sondern auch an eine Verbesserung der Gesellschaft glaubten. Der Wirtschaftshistoriker Prof. Dr. Cornelius Torp (Universität Bremen) stellte das Kaiserreich als „global player“ in „der Hochphase der weltwirtschaftlichen Vernetzung“ vor. Das Kaiserreich gehörte zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften und rang auf der Ebene der Exekutive mit zwei unterschiedlichen Interessensblöcken: den Befürwortern von protektionistischen Zöllen und jenen, die den Handel wenig einschränken wollten.
Jansen: Nicht Gründungsjahr 1871, sondern Gründerzeit seit 1849
In seinem Festvortrag trat Prof. Dr. Christian Jansen von der Universität Trier dafür ein, die Bildung des Nationalstaates nicht als Ereignis des Jahres 1871 und als das alleinige Werk des späteren Reichskanzlers Otto von Bismarck zu sehen. Man müsse unter anderem wegen einer fundamentalen Politisierung der Deutschen eine Kontinuität zwischen der Revolution von 1848/49 und dem Kaiserreich annehmen. Eine in der Gesellschaft, zumindest im Bürgertum verankerten ‚Soziale Bewegung‘ habe die Staatsentstehung getragen. Deswegen „bezeichne ich die nachrevolutionäre Epoche zwischen 1849 und 1871 als Gründerzeit“, sagte Jansen.
Vermittlung gelingt aus bodenständiger Perspektive und am kleinen sprechenden Objekt
Zur Vermittlung von Geschichte sprachen Riotte, Dr. Markus Häfner vom Frankfurter Institut für Stadtgeschichte, Markus Bernhardt, Professor an der Universität Duisburg-Essen, sowie Prof. Dr. Jacco Pekelder (Universiteit Utrecht sowie Universität des Saarlandes). In Anlehnung an den Geschichtsphilosophen Siegried Kracauer plädierte Riotte für das Sammeln und Interpretieren von „Lumpen“, also greifbaren Zeugnissen der Geschichte, an denen sich größere Zusammenhänge erläutern ließen. Häfner sprach vom Wert stadtgeschichtlicher Ausstellungen, bei denen das Kaiserreich „ein Dauerthema“ sei und die Gegenwart eingebunden werden könne.
Mehr Interesse bei Schüler:innen wecken und an ihre Lebenswelten anknüpfen
Der Didaktik-Experte Bernhardt übte Kritik an der Ausrichtung des Geschichtsunterrichtes in Schulen. Er leiste nur einen geringen Beitrag für die Zukunftsorientierung junger Menschen. Eine negative Beurteilung der Epoche überwiege in Schulbüchern und die Moderne des Kaiserreiches komme kaum darin vor. Dabei wäre gerade der dynamische Wandel einer Gesellschaft eine anschlussfähige Lernperspektive für Schüler:innen, da auch sie Beschleunigungen ihrer Zeit erlebten.
"Huis Doorn", Fluchtort des abgesetzten Kaisers, als Erfolgsgeschichte
Erfolgreiche Vermittlungsinitiativen zu Themen der Geschichte stellte Pekelder am Beispiel der Entwicklung des „Huis Doorn“ östlich von Utrecht in den Niederlanden vor. Es ist der ehemalige Exilort bzw. das Wohnhaus von Kaiser Wilhelm II. und seiner Gattinnen nach der Flucht 1918. Die Stätte präsentiere sich als „einzigartige Zeitmaschine“ und sei heute mit einem Museum für Dauer- und Wechselausstellungen ein nationaler „Erinnerungsort“ für die Zeit zwischen zwei Weltkriegen. Pekelder lobte die Orientierung an aktuellen Debatten und den Zusammenschluss mit der Wissenschaft, die sowohl bei der Politik als auch beim Publikum Anklang fanden: „Huis Doorn lädt ein, Geschichte mit Gegenwart zu verbinden und zu hinterfragen. Dies fördert das Demokratiebewusstsein.“